Aus dem „gekauft Thread“:
meine naive Antwort…
Autsch. Der erste Eindruck hat auf alle Fälle nicht getäuscht…
… wo soll man da am besten anfangen…
Dave Sim ist wohl am bekanntesten für sein Erdferkel. Ab 2008-2012 fröhnt er seiner Liebe für fotorealistische Kunst in „Glamourpuss“.
Ein Magazin mit satirischem Blick auf die Modelszene und als fortlaufende Serie enthalten ist auch das erste Konzept von „The STRANGE DEATH
of ALEX RAYMOND“. Die Seiten werden von Sim noch mal überarbeitet und als „California Test Market Edtion“ (= Book One, ca. 100 Seiten) gesammelt
wieder veröffenlticht. Vermutlich ziemlich erfolglos. Via Crowdfounding wird Geld gesammelt und eine Weiterentwicklung möglich gemacht, was uns
nun zu dieser hübschen VÖ führt:
The STRANGE DEATH of ALEX RAYMOND
(Living the Line / 2021)
Dave Sim & Carson Grubaugh
enthalten ist das (bisher) erschienene Gesamtwerk als Oversized Hardcover (ca. 320 Seiten)... Ein wirkliches Happy End gibt es doch nicht, vielleicht sollte
man die Ausgabe als
„Grubaugh Edtion“ ansehen, dazu später mehr…
First Things First:
Der namensgebende Titel bezieht sich auf den Künstler Alex Raymond (* 2.10.1909), der am 06.09.1956 nach einem Unfall mit einer Corvette verstirbt.
Der Tod gibt und Unfallhergang gibt Spekulationen bis heute auf. An einem leicht regnerischen Tag steigen Raymond und sein Künstlerkollege Stan Drake in das
(Drake gehörende) Automobil. Raymond sitzt hinter dem Lenker und fährt (laut Augenzeugen und den Aussagen von Drake) ziemlich aggressiv und wild.
Die doppelte Geschwindigkeit satt der Erlaubten und die nasse (?) Strecke führen dazu das Raymond mit dem Auto vom Weg abkommt (bzw „abhebt“),
meterhoch durch die Luft segelt und das Fahrzeug frontal gegen einem Baum crasht. Drake hat Glück im Unglück. Das berstende Glas der Frontscheibe trennen
ihm beide Ohren ab, ansonsten wird er fast unverletzt aus dem Auto geschleudert und landet im Gras. Raymond erwischt es voll. Splitter des Glases durchdringen
seinen Schädel, falls er nicht schont tot ist erledigt der Aufprall den Rest.
Zu dem Unfall gibt es widersprüchliche Artikel und Aussagen die Dave auf den Plan rufen. So mutmaßt etwa Drake das Raymond Gas und Bremse verwechselt
hat (nicht plausibel, da Raymond ja schon den Fuss AUF dem Gaspedal hatte). Warum sollte die Windschutzscheibe nicht aus Sicherheitsglas bestanden haben
(seit den 30ern in den USA vorgeschrieben) und ein Splittern wäre gar nicht möglich? Laut Drake wurden ihm die Ohren chirugisch wieder angenäht (ein Verfahren
das erst Mitte der 70er beim Menschen durchgeführt wird). Lügt jemand und steckt mehr hinter dem Unfall, als es den Anschein hat? War Raymond schlicht
suizidgefährdet, immerhin hatte er im Monat zu seinem Tod schon 4 (!) Autounfälle… Wer oder was hat ihn angetrieben?
Mysteries within Mysteries within Mysteries...
https://en.wikipedia.org/wiki/Alex_Raymond
Okaaayyyy….
Der sperrige Titel „The Strange Death of Alex Raymond“ hat noch einen sperrigeren Untertitel:
A Metaphysical History of Comics in Photorealism
Womit wir auch schon beim Kernthema von Dave Sim’s Blick auf das Geschehene eintauchen.
”The CREATOR shapes the Comic Art… and the Comic
Art in turn SHAPES the Creator... and sometimes...some times the Comic Art SNAPS the Creator in two... like a dry wig...”. Im Zuge zu seiner Recherchen
(und “Übungen” zu photorealistischer Kunst in „Glamourpuss“) konzentriert sich Sim auf die Ursprünge und Erfinder des mittlerweile fast in Vergessenheit
geratenen Stils.
Der Einstieg ist dabei noch recht leichtfüssig. Änhlich wie Scott McCloud in „Understandig Comics“ (bzw fast passender „Making Comics“) mimt Dave den
Guide und führt den Leser in die Historie des Photorealismus ein. Dabei rekontrsuiert er die klassischen Zeitungsstrips und Panele, Texte werden fliessend
ineinander verwoben und die Handlung weitergesponnen.
Hier ein paar Bilder der offiziellen Seite…
https://www.livingthelinebooks.com/books/sdoar
Bei dem Exkurs stösst man auf die Größen der Zeit die wiederum andere Künstler beeinflussten. Sozusagen die Dreifaltigkeit der realistischen Comickunst (mit ein
paar Millionen treuen Lesern)
Hal Foster -> Non-Stylized-Realism (Prince Valiant, Tarzan…)
Alex Raymond -> Stylized Realism (Flash Gordon, Secret Agent X-9, Jungle Jim…)
Milton Caniff -> Cartoon Realism (Steve Canyon, Terry & The Pirates...)
Hört sich etwas trocken an, ist aber genial umgesetzt. Die „Lehrstunde“ für Interessierte macht richtig Spaß
Im Zentrum steht dabei natürlich Raymond. Sim geht dabei wirklich ins Detail und versucht die Feinheit seiner Pinseltechnik
zu ergründen. Soweit so normal. Konkurrenz, Eifersucht, Grabenkämpfe unter Eierköpfen… Hört sich immer noch etwas konventionell an,
womit wir dann beim metaphyischen Part wären. Und der wird wirklich
Strange… Versprochen.
DOWN THE RABBIT HOLE
Dave stellt hier recht steile Hypothesen auf. Die Struktur der Erzählung wird wirrer und Sprünge in der Zeit, plus die zunehmende Zahl an Akteuren fordert
die Aufmerksamkeit. Die Geschichte geht zurück bis ins 18te Jahrhundert, bringt Okkultismus und Voodoo inst Spiel. Berühmte Stars und Sternchen der Zeit
(von Monroe bis Hepburn), einen zentralen Part nimmt Margeret Mitchell (die Autorin von „Vom Winde verweht“) ein.
Dave nimmt an das die Metaphysik der Comics die reale Welt beeinflusst und umgekehrt. Geschichten und Panele werden akribisch nach Hinweisen abgesucht
und „Geheimcodes“ (direkte Ansprache in Sprechblasen etwa durch ein „..“ gekennzeichnetes „I“ abgeleitet vom Morsecode) die Ward Greene der Autor
von „Rip Kirby“ in seinen Texten verwendet. Man merkt das Dave sich immer mehr in Detailbesessenheit verliert.
Möchte hier nicht zu viel Spoilern, aber manche Zusammenhänge sind da schon seeeehr weit hergeholt. Strip um Strip
...layers upon layers upon layers...
Inhaltlich macht das Buch etwa bei 2/3 eine Vollbremsung. Fast schon wie Raymond knallt Dave gegen eine imaginäre Wand (oder die Metaphysik schlägt
einfach zurück). Sim ist mit dem Projekt überfordert. Die Kosten wachsen ihm über den Kopf und plötzlich auftretende Schmerzen im Handgelenk machen ein
weiterarbeiten unmöglich. Die Ausgabe deckt ca. Book 1-2 (+3) ab, Dave würe etwa noch einmal die selbe Menge an Seiten brauch um die Serie abzuschließen
(ob damit auch endgültige alle offenen Fragen geklärt wären steht auf einem anderen Blatt…) Dave Sim Over and Out.
“THE OBSESSION KILLS THE OBSESSOR. The book must not end” (Eddie Campbell im Vorwort)
Hier kommt nun Co Autor Carson Gurbaugh ins Spiel (übrigens nicht so einfach zu sagen welche Arbeiten im Buch sind, die Übergänge sind IMO nicht zu erkennen).
Nach mehr oder weniger erfolglosen Kontaktversuchen oder konkreten Lösungen, bekommt er von Dave ca. 20 Doppelseiten die Book 3 abbilden hätten sollen.
Die (Blue-Line) Seiten sind Vorzeichnungen und nicht fertig ausgearbeitet (sehen aber auch so besser aus als vieles auf dem Markt, fallen aber deutluch zum Rest
des Buches ab).
So bleibt es an Carson sich einen Reim aus dem von Dave ausgelegten Puzzle zu machen. Er bringt so zumindest SEINE Deutung der Geschichte ein, ob die mit der
Vision von Dave übereinstimmt bleibt dabei im Dunkeln.
Somit gibt es auch erst mal kein „richtiges“ Ende und wird vor dem Rumpf einer fantastischen Arbeit stehen gelassen. Trotz allem ist das Werk aber absolut
empfehlenswert und gerade das Scheitern (und der ehrlichr Umgang damit) der beiden Künstler macht einen Teil der Faszination aus. Der Comic ist bestimmt
nicht jedermanns Sache, aber wer eine aussergewöhnliche Story sucht macht hier nichts falsch. Dave macht es einem nicht immer leicht seinen Gedankengängen
zu folgen und viele Details fallen (zumindest mir) erst beim zweiten mal lesen auf. Manche Theorien sind schon arg krude, aber ich bin ja von Grant Morrisons
Konzept zur Sigil „Magie“ bereits abgehärtet.
Das Artwork ist über jeden Zweifel erhaben und die Präsentation / Aufmachung des Buches ist jeden Cent wert..
Habe ja schon länger hier nichts mehr geschrieben, aber SDOAR ist für mich tatsächlich einer der faszinierendsten Comics der letzten Jahre und den Sog den
die GN entwickelt ist schwer zu widerstehen. Genie und Wahnsinn halt…
Aktuell läuft wieder eine Spendenkampagne, vielleicht besteht ja die Minichance auf einen Abschluss von Dave himself:
https://www.gofundme.com/f/sdoar-2023
Für Interessierte die nach mehr Hintergründen zu der Story suchen, Annotations von SDOAR.com
https://www.sdoar.com/annotations
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