Das Mädchen hatte sich unterdessen wieder von der Gruppe abgewandt und geruhsam und stetig seinen Weg um die Erhöhung fortgesetzt, sowohl von Markus' Zusammensacken als auch Lykahns Zorn ungerührt, bis sie schließlich den rechten Torbogen in die Dunkelheit erreicht hatte. Dort hielt sie noch einmal inne, drehte sich aber nicht zur Gruppe um, während Jakilanne erneut mit der Stimme des Kindes zu sprechen begann:
<<Eure weiteren Fragen sollen beantwortet werden. Wir gewähren zunächst die der Zauberin.>>
Dann verschwand sie in die Dunkelheit.
Niemand außer Lykahn und Markus hatte Willows Frage vernehmen können, so dass die Worte des Orakels die übrigen Anwesenden durchaus überraschten. Doch es blieb kaum Zeit darüber nachzudenken: im linken Durchgang war eine junge Frau aufgetaucht, welche nun - wie zuvor das Kind - langsam auf sie zuschritt. Auch sie hatte schneeweißes Haar und helle, alabasterfarbene Haut und trug nichts außer einem schmucklosen Kleid und einer Augenbinde, allerdings waren nun beide aus rotem Stoff.
Als Jakilanne abermals zu sprechen begann, war ihre Stimme nicht länger die des Mädchens sondern ein sonorer, angenehmer Alt:
<<Der Zauber, welcher das Geschlecht der Vampire austilgte, reicht noch weiter: Zwar gestattete er einem einzelnen Kinde der Nacht seine Existenz als solches fortzusetzen, doch beraubte er es seiner Fähigkeit, die eigene Art zu erhalten. Niemals wird dieser neue erschaffen können, die so sind wie er, sein Biss ist nur mehr tödlich, nichts anderes.
Während der Worte waren mit einem mal die Fackeln im rechten Flügel der Tempelhalle erloschen, so dass diese nun in Dunkelheit getaucht war. Doch in dieser Dunkelheit begann eine Gestalt aus rotem Licht zu erglimmen und nach einigen Momenten erkannte man deutlich, dass es Markus war. Dann erschien eine zweite, gesichtlose Gestalt, welche von dem Vampir gepackt wurde. Grob riss er den Kopf des Opfers zur Seite, schlug seine Zähne in dessen Hals. Als er wieder abließ, sackte die Figur in sich zusammen und die lichten Konturen lösten sich auf, die Szene verschwand. Lautlos flackerte das Feuer der Fackeln wieder auf, während die Pythia behutsamen Schrittes ihren Weg fortsetzte.
<<Der Bann lässt sich umgehen, ihr traft bereits solche, die ihm zuwider ihre Unsterblichkeit zurückerlangt hatten. Denn jene Urtümliche, die als die, die sie sind, geboren nicht aber geschaffen wurden, blieben vom Zauber unberührt. Ihr Blut allein birgt die Macht, neue Kinder der Nacht zu erschaffen.
Nun waren es die Fackeln zu ihrer Linken, die erloschen und abermals erschienen Gestalten aus rotem Licht vor dem dunklen Grund: eine hochgewachsene doch sehr schmal gebaute Frau, Sinara, daneben ein Mann von beeindruckender Statur und finsterem Blick: Martok. Obgleich es nur Abbilder waren, war die vampirische Aura der Macht, welche sie ausstrahlten selbst für diejenigen, die keinen der beiden kannten, deutlich zu spüren.
<<Gleichwohl ist dies eine Sackgasse, denn die so geschaffenen unterliegen der gleichen Einschränkung: ihr Biss wird niemals ewiges Leben schenken. Nicht nur wurden die Vampire vom Antlitz der Welt getilgt, sie wurden auch jedweder Möglichkeit beraubt, zurückzukehren. Doch selbst die stärkste Magie kann nicht derart in das Gefüge der Welt eingreifen, ohne dabei auch einen Gegenpol zu erschaffen...>>
Die Konturen der beiden Vampire verschwamm und das Licht bildete eine neue Gestalt. Ein mächtiger Baum mit vielfach verzweigter Krone entstand, löste sich aber sogleich wieder auf und stattdessen war nun eine Frau zu sehen, unbekleidet, und von geradezu atemberaubender Attraktivität: dichte Locken umrahmten das feine, makellose und doch markante Gesicht, ihr Körper war von einer aphrodytischen Weiblichkeit und ihr Blick strahlte Selbstbewusstsein und Sinnlichkeit aus. War schon zuvor eine Aura der Macht zu spüren gewesen, so war diese nun von einer Intensität, dass man sich ihr vollkommen ausgeliefert fühlte.
<<Nur jene, mit der einst alles begann, vermag erneut die Saat spenden, um dem Geschlecht der Vampire eine Zukunft zu schenken. Sie verließ einst unsere Welt doch kehrte zurück, nun weilt sie unter uns in vertrauter Gestalt. Sucht sie und es wird euch möglich sein, wiederherzustellen, was zerstört wurde. Denn das Potential des Vampirismus alleine, die Möglichkeit seines Fortbestands, vermag die Waage wieder auszupendeln.>>
Im Gegensatz zu dem Mädchen, war die junge Frau während ihrer Prophezeiung nicht in der Mitte ihres Weges stehengeblieben, sondern unentwegt weiter gegangen. Nun hatte sie den rechten Durchgang fast erreicht.
Während die Frauengestalt aus rotem Licht erlosch und die Fackeln wieder aufloderten, war wie aus weiter Ferne das Schreien eines Säuglings zu hören, welches nach wenigen Momenten wieder verstummte.
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