Oh nein!
Ich bin ein Mädchen!
Copyright 2007 by Jan Maaß (Jot)
Als der Wecker anfängt zu piepen, bin schon lange wach. Das ist immer so. Muss so ne Art innere Uhr sein, die mich aus meinen Träumen reißt und in die bittere Realität einer chronisch depressiven Person zurückschleudert. Schon komisch, automatisch so früh aufzuwachen. Besonders wenn man unter Schlafstörungen leidet und fast nie vor drei Uhr morgens einschläft, ob man jetzt um Neun ins Bett geht, oder erst um Zwei. Egal, ob man vorher noch dreimal um den Block gerannt ist und völlig fertig auf die Matratze fällt, oder noch schnell zwei Pullen Cola in sich hineingeschüttet hat.
Chronische Schlaflosigkeit... ätzend.
Früher schob ich meine Schlaflosigkeit noch auf die polternde Heizung. Es poltert, als würde im Heizungskeller jemand mit einem Hammer gegen die Rohe schlagen. Mit etwas Phantasie hört man ein rhythmisches SOS heraus. Die alte Heizung hatte nicht gepoltert. Aber vor zwei Jahren musste der ganze Block seine alten Gasheizungen gegen neue von „Wolf" ersetzen, wegen der neuen EU-Abgasregelungen für Heizsysteme. Seitdem macht sie den Krawall. Aber inzwischen weiß ich, dass sie nicht für meine Schlafstörungen verantwortlich ist. Denn ich habe längst herausgefunden, wie man dieses Gepolter abstellt. Man lässt die Heizung einfach aus. Der Krach war danach weg, die Heizkosten sanken, aber schlafen konnte ich immer noch. Wahrscheinlich liegt es einfach nur an meinen Depressionen und damit verbundene Leere. Das Gewissen, in dieser großen Welt nur eine jämmerliche, erfolglose Rolle zu spielen. Und demnächst spiel ich dann auch noch den Null-Euro Sklaven in einer Agentur nahe der Außenalster. Also wenn das nicht noch ein Grund zum heulen ist...
Nach einer Zeit wird mir das Gepiepse des Weckers unangenehm. Ich strecke die Hand danach aus und schlage voll auf den Tisch. Zu kurz gezielt. Beim zweiten Versuch erwische ich das Mistding. Ein schwarzer Digitalwecker mit weißen Ziffern. Sieht ein wenig dem Radiowecker aus „Und täglich Grüßt das Murmeltier" ähnlich. Aber ein Radio hat meine Sparversion nicht zu bieten. Dafür ein penetranten Piepston der in Interwallen immer lauter wird, bis man ihn auch bei geschlossenen Fenstern draußen bei den Garagen hören kann.
Ich brauche fünf Minuten um dazu durchzuringen, meinen Oberkörper aufzurichten. Die orange-weiß karierte Decke gleitet mir von den Schultern und ich ziehe sie sofort zurück. Es ist eiskalt im Zimmer. Muss ja, denn ich heize ja nicht mehr. Sogar die Stelle auf der Matratze nur wenige Zentimeter von meinem Oberschenkel entfernt ist kalt, weil sie vielleicht zehn Minuten lang nichts mehr von meiner Körperwärme abbekommen hat. Ich warte noch zwei Minuten, bis es zwölf nach sechs ist und schmeiße die Decke dann ganz von mir herunter. Von der Kalten Luft im Zimmer bekomme ich sofort eine Gänsehaut und aus Reflex umschlinge ich mich selbst mit meinen Armen. Meine Handgelenke st0ßen dabei gegen meine Brüste
(Brüste?)
Da es im Badezimmer traditionell immer etwas wärmer ist, als in meiner Wohnraum, beeile ich mich aufzustehen. Irgendwie ist mir jetzt noch kälter als sonst. Ich kontrolliere beide Velux-Kippfenster, doch beide sind geschlossen. Man kann nicht hinaussehen, denn sie sind mit Schnee bedeckt. Der muss in der Nacht gefallen sein, denn gestern Abend konnte man noch die Windkrafträder auf den Hügeln im Süden sehen. Naja, der Winter kommt also doch. Alle Panikmache der Bildzeitung zur Globalen Erderwärmung kann ich also zunächst weiter ignorieren.
Ich schwanke zum Badezimmer. Mein Kopf ist schwer. Ich fühle mich so mies, wie nach meiner letzten Alkoholvergiftung. Ständig fallen mir meine langen Haare ins Gesicht
(Lange Haare?)
und ich klemme sie mir hinters Ohr. Fast wäre ich torkelnd rechts in die Küche abgebogen, gehe dann aber doch nach links ins Badezimmer. Auf den Lichtschalter kloppen und die Tür auf stemmen ist bei allem Schwindel und Dusel hinter meiner Stirn immer noch eine überraschend, fließende Bewegung, perfekt koordiniert mit beiden Armen und Händen - ja mit fast weiblicher Eleganz...
Endlich bin ich im relativ warmen Badezimmer. Sogar die Fließen unter den nackten Füßen sind warm. Auf dem Weg durch den Flur ist meine Unterhose runtergerutscht und ich ziehe sie wieder hoch. Das Licht flimmert mir noch vor Augen. Die Glühbirnen links und rechts neben dem Spiegel haben keine Abdeckung mehr, weil mir beim Saubermachen jene gläsernen Kugeln auf dem Boden gefallen und zerschellt sind. Selbstreden war ich auch noch in die Scherben getreten und mit einen bösen Schnitt in der Fußsohle zugezogen. Das tat noch zwei Wochen lang irre weh. Ohne diese Glaskugeln sehen meine Lampen jetzt aus wie - ach nein, das sag ich lieber nicht. Man sollte mit zweiundzwanzig aus dem Alter ras sein, sich über derartige Gedankengänge zu amüsieren.
Mit Schlaf in den Augen nehme ich Zahnbürste und Zahnpasta aus dem Becher neben dem Wasserhahn. Elmex. Eigentlich soll man morgens ja mit Aronal und Abends mit Elmex putzen. Dumme Gedanken, die mir jetzt nicht machen sollte. Im runden Spiegel erhasche ich einen Blick auf mein Gesicht. Ich blicke in das Antlitz eines anderen...
Eines anderen?
Es ist noch viel schlimmer. Ich blicke in das Antlitz EINER anderen! Ich habe grüne Pupillen, die mir vertraut sind, aber das ist auch schon alles. Die Augen, die Wimpern, eine kleine Stupsnase, Sommersprossen und Segelohren. Mein rechtes Ohr ist auch noch gepierct. Drei kleine goldene Ringe stecken im oberen Bereich der Ohrmuschel.
Ich tippe zwei Mal mit der Zahnbürste gegen den Spiegel. Ein nutzlose Aktion. Sie gleitet mir aus der Hand und schlittert durch das Waschbecken.
Zwei Hände gleiten durch das erstaunte Gesicht. Erst über die Wangen, unter die langen, hellbraunen, ja fast beigefarbenen Haare. Ganz kurz betastet meine rechte Hand die Piercings im rechten Ohr. Das Metall ist kälter als mein frostiges Zimmer. Ich wage einen Blick an mir herunter und die Hände folgen diesem Blick.
Ich habe ******...
Ich umfasse sie ungläubig und hebe sie etwas an, fühle die weiche Haut, das Gewebe darunter und das Gewicht. Dann wird mir plötzlich schlecht. Sehr sehr schlecht. Der ganze Magen verkrampft sich. Es fühlt sich an wie Tritt mit einem Springerstiefel. Mein Kopf fliegt nach links, denn will mich aus irgendeinem Grund nicht ins Waschbecken erbrechen. Warum, weiß ich auf die schnelle nicht. Sekundenbruchteile später, während mein Kopf noch herumfliegt übergebe ich mich im Stehen. Ich glaube meinen ganzen Magen auszuspucken. Und so hört es sich auch an. „Brüllkotzen" haben wir das früher genannt. Ich erbreche bis nichts mehr kommt und ich nur noch Magensaft huste. Ich glaube auch, dass mir die Augen tränen...
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