Die Wälder Lettlands, nahe den Ruinen von Riga
Vorsichtig ging Naetur in die Hocke, um die Spur in der Dunkelheit der Nacht besser betrachten zu können. Es musste sich um ein Reh handeln, offensichtlich hinkte es stark. Vielleicht war es von einem Baum getroffen worden – die starken Stürme in letzter Zeit setzten den Wäldern schwer zu.
Naetur erhob sich, und sah nach oben in die Wipfel zu Silhae. Der Falke verstand, erhob sich mit ein paar kräftigen Flügelschlägen und verschwand in die Richtung, in die das Reh geflüchtet sein musste.
Bevor Naetur ebenfalls folgen konnte, ließ der Klang einer kalten, aber irgendwie weichen Frauenstimme ihn herum fahren.
„Das Tier ist bereits tot, du mühst dich vergebens.“
Er drehte sich rasch herum, und erblickte einige Meter weiter eine Frau an einem Baum lehnen. Sie war von schmaler Gestalt, aber recht groß, und ihre Haut wirkte seltsam hell, fast wie Alabaster. Schwarzes glattes Haar umrahmte ihr Gesicht, aus dem zwei bernsteinfarbene Augen ihn anglitzerten.
„Hallo Naetur!“
Die Gipfel des Himalaya, östlich des früheren Tibets
Missmutig kehrte Markus zu der Höhle zurück, welche nun schon seit Monaten die Behausung für ihn und die kleine Gabrielle darstellte. Seit mehreren Nächten war er nun schon leer ausgegangen, die anhaltenden Schneestürme machten eine Jagd unmöglich.
Als er die Höhle schließlich erreichte, spürte Markus, dass etwas nicht stimmen konnte. Ein fremder Geruch lag in der Luft, und es war auffällig still....
Vorsichtig betrat er das Gewölbe, und sah sich um, als er plötzlich von hinten gepackt wurde und ein kräftiger Arm sich um seinen Hals legte, um diesen im festen Griff zu halten. Fast im selben Moment hörte er unmittelbar hinter sich eine Stimme auf griechisch rufen: „<Schnell, bring das Kind raus, ich halte ihn!>“
Von weiter weg drang ein helles, kaltes Lachen an sein Ohr.....
Amerika, ein alter Highway, kurz vor New Orleans
Krolock warf einen kurzen Blick zum Beifahrersitz, wo Amaryllis saß, bevor er wieder auf die Straße vor ihm achtete. Es war keine besondere Vorsicht geboten, die alten Straßen wurden nicht mehr oft genutzt, und erst recht nicht mitten in der Nacht.
Ein verfallenes Schild erschien am rechten Straßenrand: „New Orleans, Industrial Area“, und nun konnten sie auch die ersten verfallenen Fabrikgebäude sehen.
Sie schwiegen beide. Seit Wochen, wenn nicht Monaten waren sie unterwegs, und langsam dämmerte ihnen beiden, dass ihre Suche wohl erfolgslos bleiben würde.
Keiner von ihnen wusste, dass nur Sekundenbruchteile später das Ziel ihrer Suche finden sollten – in Form einer jungen, schmal gebauten Frau, mit schneeweißem Haar, welche urplötzlich mitten vor ihnen auf der Straße stand, und unschuldig in das grelle Licht ihrer Scheinwerfer sah.....
Irgendwo in einem Farmerhaus in Maine, einem früheren Bundesstaat der USA
Entspannt lehnte Aquaria sich in den Stuhl auf der Veranda zurück, und sah auf die weite, einsame Landschaft vor ihr. Noch immer fühlte sie sich verbunden mit der Nacht, und genoss die Stille und Einsamkeit, die sie brachte. Wahrscheinlich, so dachte sie, würde sie sich nie daran gewohnen, keine Vampirin mehr zu sein. Was die anderen jetzt wohl machten? So oft waren ihre Gedanken bei Willow oder Froze oder bei Markus.
„Hallo Aquaria.“
Überrascht drehte sie sich um. Vor ihr stand eine Frau, schmal gebaut, mit tiefschwarzem Haar.
„Du vermisst sie, nicht wahr?“
Ein Klosterinternat nahe Hove, Südengland
Das Geräusch einer zufallenden Tür ließ Willow hochfahren. Einen Moment lang wusste sie nicht wo sie sich befand. Die letzten Bilder eines verwirrenden Traumes hingen ihr noch im Gedächtnis: eine große Höhle, Kristalle so groß wie Menschen, ein junger blonder Mann, ein strahlendes Leuchten....
Erst auf den zweiten Blick erkannte Willow, dass sie sich in der Bücherei der Klosterschule befand, und ihr Blick fiel auf das Buch vor ihrem Tisch: “Wicca im Wandel der Zeit“.
Mit einem tiefen Seufzen schob sie das Buch beiseite, es brachte sie bei ihren Fragen nicht wirklich weiter.
„Du bist auf der Suche nach dir selbst, nicht wahr?“
Die Stimme ließ Willow herumfahren. Hinter ihr am Fenster stand die Gestalt einer Frau, das Licht des Mondes beschien sie von hinten durch das Fensterglas und ließ Willow lediglich eine schwarze Shilluette erkennen.
„Vielleicht kann ich dir helfen....“
Ein verlassenes Industriegebiet am Rande von New Orleans
Charlene beugte sich langsam nach unten, griff nach dem Schild: <<Projekt: Delphi>>. Das war alles. Kein Hinweis, keine Antworten. Gedankenverloren ließ sie das Schild wieder fallen, und sah sich um. Die Umgebung war Charlene fremd, macht ihr fast Angst. Die Bauten waren groß und furchteinflößend, graue Klötze, bereits halb verfallen. Der andere in ihr, er kannte solche Bauten, oder zumindest ähnliche, nicht ganz so groß, „Fabriken“ nannte er sie....
Plötzlich konnte sie ein grelles Licht hinter sich ausmachen. Sie drehte sich um, und sah am Ende der Straße zwei leuchtend helle Punkt, die rasch näher zu kommen schienen – „Scheinwerfer“ sagte der andere in ihr – und in deren Lichtkegel blieb sie stehen; ohne sich zu rühren, wartete sie ab, während die beiden leuchtenden Punkte immer näher kamen....
Die Abwasserkanäle von Sidney, Australien
Zusammengekauert, die Knie eng an den Oberkörper gezogen, saß Froze in eine Ecke des Gemäuers gekauert, den Schutz der Schatten suchend. Wenn es doch nur aufhören könnte... all das Leid.
„Sieh dich an.... nicht anders als bei unserer letzten Begegnung“, sagte eine kalte, und doch weiche Stimme. Froze reagierte nicht. Er hörte soviel, spürte soviel, wer wusste was noch echt war, und was nicht.
„Sieh mich an Killias.“ Beim Klang des Namens zuckte Froze merklich zusammen, und versichtig drehte er seinen Kopf. Er konnte nicht viel erkennen, nur ein paar Augen, bernsteinfarben wie seine eigenen.
„Steh auf!“ Etwas in ihrer Stimme ließ Froze gehorchen, und vorsichtig und nervös erhob sich, seinen Körper eng an die Wand gedrückt. Mit einem Lächeln streckte die Gestalt die Hand aus, in der sich eine kleine, schwarzglänzende Kugel befand. „Ich habe dir einmal geholfen, ich tue es wieder. Nimm!“
Froze griff danach, und ehe er wusste, was geschah, löste die Kugel sich, zog einen schwarzen Film, zog über seine Hand, breitete sich langsam aus über seinen ganzen Körper und hüllte ihn eine unbeschreibliche Kälte und totale Finsternis ein.
Und erst jetzt bemerkte Froze, dass die Stimmen, die Emotionen und das Leid verschwunden waren.
„Folge mir. Wir werden eine Reise machen....“
Kreuzberg, Berlin
Müde öffnete Lilly die Tür zu ihrer Wohnung, und trat ein. Es war spät, und ruckartig warf sie ihre Jacke auf die Couch und ging in die Küche, um sich noch etwas zu trinken einzuschenken. Schnell leerte sie das Glas, stellte es in die Spüle, und ging wieder aus der Küche, um ins Bad zu gehen. Als sie jedoch ins Wohnzimmer trat, erschrak sie: auf ihrer Couch lag eine schlanke Frau mit heller Haut; bernsteinfarbene Augen leuchteten aus ihrem mit rabenschwarzem Haar umrahmten Gesicht, und sahen Lilly forsch an.
„Du kommst spät.....“
Eine Bar in einem der ärmeren Stadtviertel von Chicago
„Noch einen.“
Wortlos stellte der Barkeeper Stranger ein weiteres Glas Scotch hin. Dieser griff danach, trank jedoch nicht gleich, sondern schwenkte das Glas erst und starrte in die bräunliche Flüssigkeit.
„Hey, Stranger, was is los heute?“ Mit diesen Worten legte ein großer, dunkelhaariger Mann seinen arm um Strangers Schulter. „Jeff hat noch ne Runde Armdrücken mit dir offen, schon vergessen?“
Stranger stellte das Glas wieder auf den Tresen und winkte ab. „Heute nicht, ich bin nicht in der Stimmung jemanden zu deprimieren“, meinte er mit einem Grinsen, das jedoch deutlich machte, allein sein zu wollen.
„Wenn du meinst“, erwiederte der Große, und setzte sich wieder zu einigen anderen.
„Was beschäftigt dich, Fremder?“
Die Stimme kam von einer jungen Frau, zwei Plätze neben Stranger am Tresen. Sie war von schmaler Gestalt, und hatte tiefschwarzes langes Haar, das ihr blasses Gesicht umrahmte. Das auffälligste jedoch, waren ihre bernsteinfarbenen Augen.
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