"Das ist kein Comic, das ist Literatur!"
Ein Freund
"Anarchy for the U.K., it’s coming sometime"
Johnny Rotten (Sex Pistols)
"Alan Moore ist ein Genie!"
Ich
Verortung der Vorgänger
Ist V ein Rip-off ?
Man mag kaum an Zufall glauben, aber tatsächlich existiert ein Buch mit dem lapidaren Titel V, eines, das dem gleich"namigen" Comic-Helden nicht unbekannt ist (er liest es auf Seite 64, Bild 7 des Trade Paperback).
Der Autor des Buches, Thomas Pynchon, verstand es, sich mit einer vergleichbar mysteriösen Aura zu umgeben wie der Mooresche Anarchist. So lebt der Amerikaner seit Veröffentlichung seines Romans V im Jahre 1963 in scheinbar absoluter Anonymität. Nahezu keinem Journalisten ist es gelungen, ihm seit genanntem Jahr näher zu kommen, lediglich ein Interview wurde - nicht ganz freiwillig - gegeben.
Vor einigen Monaten wurde im Deutschen Fernsehen eine Dokumentation ausgestrahlt, in der man sich erneut auf Spurensuche nach diesem fast schon zum Mythos gewordenen Autor begab.
Pynchons wenige Bücher (ca. eines pro Jahrzehnt) sind nicht einfach zu lesen. Sie sind politisch-subversiv und berichten von Unterdrückung und gesellschaftlichem Niedergang, stellen Ordnung und Anarchie als den Gegensatz von Anpassung und Freiheit dar.
Trotz all dieser Parallelen: Der Roman V hat mit dem Comic inhaltlich wenig gemein, allenfalls, dass der Buchstabe V in beiden Werken eine bedeutende Rolle spielt.
Dennoch könnte Moore den griffigen Titel als Anregung für die "Namens"gebung seiner Hauptfigur gesehen haben.
Diese Bezeichnung soll einem im Trade Paperback als Nachwort gedruckten Artikel* zufolge ebenso wie das Aussehen des Helden (nach einer Idee von Lloyd) bereits festgestanden haben als Dez Skinn, ein Freund und Herausgeber des Warrior Magazine (siehe hipgnosis' erstes Posting), den Titel V for Vendetta vorschlug, interessanterweise ohne zu wissen, in welche Richtung sich die Story entwickeln sollte. Skinn war jedoch neben dem Kürzel V für die Titelfigur bekannt, dass ein unter dem Titel Vendetta geplantes ähnliches Projekt von Moore zuvor abgelehnt wurde.
Da liegt es nahe anzunehmen, dass die Idee Skinns einer Assoziation mit dem Titel Z wie Zorro entsprang, schließlich ist auch der Mexikaner ein Held der Unterdrückten, der den Kampf gegen korrupte Politiker aufnimmt.
In o.g. Artikel werden u.a. als Einflüsse genannt: George Orwell (1984), Aldous Huxley (Schöne neue Welt) und Ray Bradbury (Fahrenheit 451), die drei der vier wichtigsten klassischen Dystopien geschrieben haben (die vierte ist das wunderbare Buch Wir von Samjatin), außerdem wird Thomas Disch erwähnt (sicher meint Moore dessen Buch Camp concentration, ein in einem totalitären Amerika spielender Roman in dem in Konzentrationslagern Menschenversuche durchgeführt werden).
Dass Moore in seiner Aufzählung auch Robin Hood nennt, verleiht der obigen, Zorro betreffenden These zusätzliche Glaubwürdigkeit.
Ein anderer Schriftsteller, der im Comic nicht nur gelesen sondern über den auch gesprochen wird, ist der ungarischstämmige Engländer Arthur Koestler. Eigentlich verwunderlich, dass dieser Autor in Moores fiktiven England nicht verfemt ist**, stand er dem Faschismus doch scharf ablehnend gegenüber. Die Exekution eines vom spanischen Franco-Regime ausgesprochenes Todesurteil konnte 1937 durch Intervention der britischen Regierung abgewendet werden.
Koestler war Zionist und Kommunist. Von letzterem sagte er sich 1940 los und klagte Stalins Menschenrechtsverletzungen in einem seiner Romane bitter an.
Sein 1943 geschriebenes Arrival and departure gilt als der erste literarische Bericht über ein KZ.
Sein politisch-schriftstellerisches Schaffen ist geprägt von Fragen zum revolutionären Engagement: Ob der Zweck die Mittel heiligt und warum Menschen an Ideale glauben, die sie irrational denken und handeln lassen.
Insofern darf er in einer Aufzählung der Einflüsse nicht fehlen.
Auch der auf Seite 173, Bild 3 kurz erwähnte polnische Schriftsteller Jakob Bronowski beschäftigte sich in seinem Werk mit dem Phänomen menschlicher Gewalt.
Da die explizit genannten Schriftsteller die Themata in V for Vendetta zumindest berühren, darf eine von diesen ausgehende - zumindest partielle - Beeinflussung des Autors vermutet werden.
*= ursprünglich veröffentlicht in Ausgabe 17 (1983) des Warrior Magazine
**= zumindest verzichtet das "Ohr" Etheridge, der den Namen des Autors zuordnen kann, gegenüber dem Helfer Finchs, Dominic, auf entsprechende Bemerkungen, Seite 182, Bilder 5-7)
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Vermummung
V ist trotz seiner Maske, die Autor und Zeichner in Bezug auf die Mimik völlig beschneiden, ein faszinierender* Charakter.
Wer steckt hinter der Maske ?
Kein Mensch sondern in gewisser Weise ein Jedermann (was sich gar nicht faszinierend anhört), mindestens Repräsentant, wenn nicht Verkörperung einer Idee, Inkarnation des Anarchismus (Seite 236, Bild 7).
Sein Gesicht ist daher nicht relevant, würde nur ablenken, der Leser soll nicht sehen sondern spüren, dass er eine Idee, ein Ideal ist.
So erklärt sich die wunderbare Szene in der Evey nach V’s Tod mit dem Gedanken kämpft, ihn zu demaskieren und sich dabei fragt, wie er wohl aussehen mag.
Nachdem sie die Maske lupft sieht sie sich selbst (Seiten 249 und 250).
Der Erkenntnis folgt der Wille, das Vermächtnis fortzusetzen, angedeutet durch das maskenlose Lächeln Eveys (Seite 251, letztes Bild): sie ging in V’s "Schule" und wird diese fortführen als Lehrerin von Dominic (Seite 263).
Aber die Frage, wer unter der Maske steckt, wird nicht nur auf Ebene der Repräsentanz beantwortet sondern auch zur weiteren Mystifikation genutzt: V wird von Dr. Surridge einmal als hässlich (Seite 81, Bild 4), ein andermal als schön (Seite 75, Bild 8) bezeichnet, interessanterweise war er Dr. Surridge zufolge "hässlich" bevor er durch seine angedeuteten furchtbaren Verbrennungen entstellt wurde, "schön" danach.
Dies lässt mehrere Deutungen zu:
Hat Dr. Surridge gelernt einen Mensch anders zu sehen, ihn durch die "Maske seines Aussehens" zu erkennen ?
Empfand sie V’s Anblick als schön, weil sie sein Erscheinen wie das eines erlösenden Engels annahm ?
Der Leser ist in jedem Fall irritiert, dass es zu einem solchen Wechsel der Ansicht kommen konnte und versieht die Figur des V mit einem zusätzlichen Fragezeichen.
V’s Guy Fawkes-Maske wirkt insbesondere in Szenen äußerster physischer Anstrengung sowie in der Vorbereitung oder Ausführung seiner Taten durch ihr eingefrorenes Dauerlächeln un-, ja sogar übermenschlich.
Dialogszenen, insbesondere wenn diese emotional aufgeladen sind (was auf viele der Gespräche mit Evey zutrifft), bekommen durch die Maskierung eine befremdliche Note, was ebenfalls zur Mystifikation des Charakters beiträgt.
Wie genial Moore (und/oder Lloyd) mit dem Einsatz der Maske umzugehen verstehen, fällt auf, wenn sie sich in diesem zurück nehmen.
In der großartigen, schon ansatzweise erwähnten Szene in der V an Dr. Delia Surridge Rache nimmt (Seiten 70-75), wird dieser kaum gezeigt, seine Maske sehen wir nicht.
Zu groß die Gefahr, dass sie mit ihrem lächelnden Zug die einfühlsame Stimmung zerstört hätte, sie würde zynisch wirken.
Tatsächlich werden wir so Zeugen einer Hinrichtung die den Eindruck hinterlässt, ein Akt humaner Sterbehilfe zu sein (und von Dr. Surridge auch so empfunden wird).
Die Maske hat also im Wesentlichen zwei Funktionen. Einerseits dient sie der Mystifikation des Charakters, andererseits ist sie durch die jederzeitige Reproduzierbarkeit ein Symbol für den Jedermann, der sich hinter ihr versteckt bzw. verstecken kann. Das Symbol wiederum ist einfacher als ein Gesicht als Zeichen einer Idee identifizierbar, die Maske wird mithin ähnlich bedeutungsgeladen wie das durch einen Kreis umringte A.
Noch ein paar Worte zur Kleidung (ist die Maske Kleidung, Verkleidung oder beides ?):
Steht V still, sind seine Extremitäten meist vollständig durch den weiten Umhang verdeckt, er ist nur Hut, Maske und Cape.
Insbesondere in kritischen Situationen scheint er dadurch selbstsicher, unverrückbar mit der Erde verbunden, ja regelrecht verankert (keine nervösen Bewegungen, kein Herumgefuchtel) und somit unberechenbar (Leser und Gegner wissen nicht, was er aus seinem Cape hervorzaubern wird, welche Bewegungen vorbereitet werden).
Seine Kleidung entspricht einem zum Klischee gewordenen Bild welches man sich gemeinhin vom Outfit eines Verschwörers macht und zu dessen Propagierung auch Comics ihren Anteil beitrugen.
Man denke z.B. an die Gifticks (Les Krostons) von Paul Deliège, die sich nichts geringeres vorgenommen haben als die Welt zu erobern, den Attentäter aus Lucky Lukes "Der Großfürst" oder die Verschwörer gegen Schlumpfissimus, den König der Schlümpfe, die allerdings aufgrund ihrer scheinbar festgewachsenen Mützen auf den breitkrempigen Hut verzichten.
Auch ein Rip-off von V sei genannt: die Serie Anarky (DC) von Alan Grant und Norm Breyfogle zeigt schon durch die Kleidung des Helden, wer der Figur als Modell dient.
Betrachtet man zeitgenössische Illustrationen scheint dieser Look auf Guy Fawkes, den berühmt-berüchtigten Anführer der Pulververschwörung, zurückzuführen zu sein.
Warum dieses Guy Fawkes-Image in V ? Dazu später mehr im Rahmen einer Analyse der Ideologie V’s.
*= umso mehr, da der Begriff "Faszination" sich etymologisch aus dem der "Verblendung" ableitet
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