Zeppelin? Was ein Zeppelin mit Family Tree zu tun hat? Nichts. Jedenfalls bis jetzt. Vielleicht sollte ich die Autokorrektur abschalten. Also noch einmal von vorne.
Zep, Zep, Hurra. This is the end, my only Friend. Das geheime Leben der Bäume. Nein, keine Resident (Alien-)Trees wie bei Ellis (Cross Cult). Die Baumfamilie von Lemire ist auch keine Fortsetzung der bei S & L erschienenen Wohleben-Homage, aber es gibt Parallelen. Einen Plan, bei dem die Menschheit irgendwie überflüssig ist. Der Weg in die Dystopie scheint vorgezeichnet. Worum gehts?
Loretta ist wie Mare of Easttown, gespielt von der faszinierenden Kate Winslet in der gleichnamigen Streamingserie, immer schlecht gelaunt. Kein Wunder. Ihr Ehemann Darcy hat sie mit den Kindern sitzenlassen. Er ist ohne Erklärung einfach so verschwunden. Josh, der pubertierende Sohn, verursacht auf der High School ständig Ärger. In seiner Schultasche wird Marihuana gefunden, was Loretta mal wieder eine Gespräch bei dem Schuldirektor verschafft. Sie scheint dort ein Abo gebucht zu haben. Daneben gibt es noch die jüngere Tochter Meg. Sie hat Probleme. Große Probleme. Es fängt unscheinbar an. Ein Jucken am Arm. Loretta nimmt die Sache zunächst nicht so ernst. Das ändert sich schlagartig, als sich der Ausschlag ausbreitet und ein Ast aus ihrem Rücken wächst. Dann taucht plötzlich ein älterer Mann auf, der Linderung verspricht. Und schon sind wir mitten in der Geschichte. Man kann über Lemire sagen, was man will. Aber der Mann ist ein grandioser Erzähler. Schon am Ende des ersten Kapitels überschlagen sich die Ereignisse. Mit wenigen Worten gelingt es ihm, die Protagonisten so zu charakterisieren, dass die Leser mit ihnen fühlen, sich in sie hineinversetzen können. Die Story fesselt von Anfang an. Keine unnötigen Längen. Stattdessen klare, zum Teil lakonische Dialoge („Können wir uns die xxx-Ansprache einfach sparen? Gerne.“, Seite 75). Die schnell aufgebaute Spannung explodiert gelegentlich in Orgien von Gewalt. Die eigentlichen Fragen bleiben naturgemäß unbeantwortet. Was steckt hinter den Baumtrieben am Körper, hinter den hölzernen Händen? Können die geheimnisvollen, bis an die Zähne bewaffneten „Arboristen“ helfen, die eine etwas eigenwillige Vorstellung von Baumpflege haben? Wer sind hier eigentlich die Guten? Die Serie ist auf 3 Bände angelegt. Da bleibt noch ausreichend Zeit. Band 2 ist für September 2021 und der Abschlussband für März 2022 angekündigt.
Und das Artwork? Drei Zeichner haben sich die Arbeit geteilt. Trotzdem wirken die Bilder wie aus einer Hand, aus einem Guss. Ein erstaunlich einheitlicher, stringenter Stil. Erinnert mich etwas an Umbrella Academy, einer meiner „all time favorites“. Gedeckte Farbtöne, passend zur Geschichte, runden den guten Eindruck ab.
Bleibt die Frage, wo sich „Family Tree“ in den Reigen der überdurchschnittlichen Werke von Lemire einreiht. Ist der Comic so gut wie Descender, Black Hammer oder Gideon Falls? Oder ist er ein Beleg für die These, er schreibe einfach zu viel, was zu Lasten der Qualität gehe? Ich denke, Lemire hat hier wieder geliefert. Mag sein, dass nicht alle seine Werke überragend sind oder Meilensteine der zeitgenössischen Comickunst. Aber selbst die Ausreißer nach unten sind noch um ein Vielfaches besser, als das, was so mancher auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft abliefert. Für mich gehört Lemire zu den ganz großen amerikanischen/kanadischen Geschichtenerzählern. Mit Family Trees hat er es erneut unter Beweis gestellt.
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