Wie konsequent wird rechte Gewalt eigentlich verfolgt? Jagdszenen aus Sachsen-Anhalt
Der langsame Arm des Gesetzes
Polizisten, die schon mal wegschauen, eine Justiz, die sich Zeit lässt, in Angst erstarrte Opfer – warum rechtsradikale Täter oft glimpflich davonkommen
Von Hans Holzhaider
Quedlinburg, im Oktober – Diese Nacht im Café in der Reichenstraße wird Lars Reichert (Name geändert) nicht so schnell vergessen. Es war kurz nach zwei Uhr morgens am 18. Juni 2005, als die Kerle kamen, zehn waren es ungefähr, und so, wie sie aussahen, war klar, dass es Rechte waren. „Die ham sich so’n bisschen breitgemacht, dann fingen sie an Billard zu spielen, und dann wurden sie langsam kiebig“, erinnert sich Lars Reichert. Valerin H., genannt „Vale“, dem Pächter des Cafés, schwante nichts Gutes, er rief vom Hinterzimmer aus die Polizei an. Als er auf die Straße gehen wollte, um auf den Streifenwagen zu warten, stand einer von den Kerlen, ein ziemlich dicker, in der Tür und sagte: „Hier geht keiner raus.“ Vale sagte: „Ich bin der Chef“, und der Dicke erwiderte: „Jetzt bin ich hier der Chef“, und er rammte Vale die Billardstange in die Rippen. Dann flogen wie auf Kommando die Bierflaschen und Billardkugeln durch den Raum. „Zwei haben mich runtergezogen, und einer hat mit dem Barhocker auf mich eingeschlagen“, erzählt Lars Reichert. „Ich dachte wirklich, die schlagen mich tot. Ich hab’ gebrüllt, da haben sie losgelassen, ich kam hoch, und da schlug die Billardkugel ein.“
In aller Seelenruhe
Die Kugel traf Lars Reicherts Oberlippe. Die wurde glatt durchgeschlagen, „da konntest du den Finger durchstecken“, und drei Zähne waren weg. Das Ganze dauerte nur ein, zwei Minuten. Dann hauten die Kerle ab, gerade als zwei Streifenwagen um die Ecke bogen. „Wir haben denen gesagt: ‚Da laufen sie, fahrt hinterher’, aber das haben die geflissentlich überhört“, sagt Lars Reichert. Er blutete sehr stark aus der Oberlippe, es war nicht zu übersehen, was hier geschehen war. Aber die Polizisten fingen erst mal seelenruhig mit der Befragung der Zeugen an; die Angreifer verschwanden unerkannt in Dunkeln.
Das Café in der Reichenstraße ist der Polizei wohl bekannt. Quedlinburg ist eine wunderschöne kleine Stadt, sie steht auf der Weltkulturerbe-Liste der Vereinten Nationen, aber abends ist hier ziemlich tote Hose, jedenfalls für Jugendliche, die es sich nicht leisten können, in Touristenlokalen zu sitzen. Die treffen sich im Café in der Reichenstraße. Das Haus gehört der Stadt; Träger des Cafés ist ein soziokultureller Dachverein, und das bedeutet, dass die, die hierher kommen, definitiv nicht zur rechten Szene gehören. Nachmittags sitzen hier Schüler und machen ihre Hausaufgaben und kriegen auch ein preiswertes Mittagessen, abends gibt es hier Kino oder auch mal ein Konzert, eine Juke-Box steht da und ein Billardtisch. Und immer wieder gibt es Zoff mit denen aus der rechten Ecke, und von denen gibt es nicht gerade wenige in dieser Gegend. In den neunziger Jahren, erzählt Stefan Helmholz, der Geschäftsführer des Trägervereins, gab es hier regelrechte Straßenschlachten, einmal, es war Himmelfahrt 1996, haben die Rechten das Café kurz und klein geschlagen. Das hat jetzt aufgehört, aber was nicht aufgehört hat, sagt Stefan Helmholz, sind die ständigen Provokationen – wenn man denn das, was hier am 18. Juni 2005 passierte, eine Provokation nennen will.
Amtsgericht Quedlinburg, 10. Oktober 2006: Daniel B., 26, ist angeklagt des Hausfriedensbruchs und der Körperverletzung. Nicht wegen der Sache am 18. Juni des Vorjahres, nein, so weit ist die Justiz noch nicht. Daniel B. hatte schon zwei Wochen vor jenem Überfall einen Auftritt in der Reichenstraße. Er sei, erzählt einer der Gäste, ins Café gekommen, habe herumgepöbelt und nach „Assis“ und „Zecken“ gesucht, worauf der Pächter die Polizei gerufen und ihm Hausverbot erteilt habe. Ein paar Stunden später sei B. aber in Begleitung mehrerer Männer zurückgekommen und habe den Mann, der den Türdienst versah, zu Boden geworfen und mit Faustschlägen und Fußtritten traktiert. Die Polizie kam erst nach einer Viertelstunde; die Beamten, erinnert sich ein Zeuge, hätten gesagt, sie hätten das Café nicht gleich gefunden. Es war deshalb auch bei dieser Gelegenheit leider nicht möglich, die Personalien der anderen Angreifer festzustellen.
Die Verhandlung vor der Einzelrichterin Antje Schlüter dauert nicht sehr lange. Ein Zeuge ist nicht erschienen, die Verhandlung muss vertagt werden. „Ich sag’ Ihnen gleich, dieses Jahr wird das nichts mehr“, kündigt Richterin Schlüter an. Aber einen kleinen Fortschritt in der Sache gibt es doch. Der Angeklagte hat zwei seiner Kumpels mitgebracht, und einer der Zuschauer erkennt diese beiden. Die, sagt er, seien bei dem zweiten Überfall am 18. Juni dabei gewesen. Was ist zu tun?
Zaudern im Gericht
Im Publikum sitzt Heike Kleffner, 40. Sie hat als Journalistin für die taz gearbeitet und mehrere Bücher über Rechtsradikalismus veröffentlicht. Jetzt leitet sie die Mobile Opferberatung in Magdeburg, eine vom Bundesfamilienministerium finanzierte Einrichtung, die sich um Opfer rechtsradikaler Gewalttäter kümmert. Jetzt geht Heike Kleffner auf den Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft zu, den Oberamtsanwalt Dietmar Kral. Amtsanwalt Kral ist nicht sehr vertraut mit der Materie – er hat die Akte der Strafsache, in der er hier tätig ist, gerade mal am Vortag auf den Schreibtisch bekommen. Und nun kommt also diese bestimmt auftretende Frau auf ihn zu und sagt: „Stellen Sie mal die Personalien dieser Leute fest.“ Amtsanwalt Kral zögert. Es liegt ihm doch nichts vor gegen diese beiden Herren. „Also bitte“, sagt Frau Kleffner, „hier ist ein Zeuge, der hat die beiden wiedererkannt.“ Der Amtsanwalt zögert immer noch. Frau Kleffner wird jetzt etwas lauter. „Was sind Sie eigentlich? Sind Sie eine Strafverfolgungsbehörde oder was?“ Mag sein, dass die Anwesenheit eines Journalisten mit gezückten Schreibblock die Entscheidungsfreude des Oberamtsanwalts Kral beeinflusst – jedenfalls tritt er jetzt auf die beiden Begleiter des Angeklagten zu und nimmt deren Personalien auf.
Heike Kleffner ist nicht sonderlich schockiert über das zögerliche Verhalten des Amtsanwalts. So ist das hier. Dass der Verfolgungseifer von Polizei und Staatsanwaltschaft gegenüber rechtsradikalen Schlägern sich in Grenzen hält, erlebt sie immer wieder. Oschersleben, zum Beispiel, am Himmelfahrtstag 2006. gegen halb elf Uhr abends jagen Neonazis eine Gruppe Jugendlicher durch den Ort. Die flüchten sich zum nahe gelegenen Polizeirevier in der Hoffnung, dort Hilfe zu finden. Die Tür ist verschlossen. Sie klingeln, sie hämmern an die Tür, nichts geschieht. Inzwischen haben ihre Verfolger sie eingeholt. Die Neonazis prügeln mit Fäusten auf die Jugendlichen ein. Dann merkt einer der Schläger, dass sie direkt vor der Polizeiwache stehen. Sie laufen davon. Der wachhabende Polizeibeamte gibt später an, er habe das Klingen wohl gehört, aber nicht geöffnet. Stattdessen hat er einen Streifenwagen gerufen. Als der eintrifft, sind die Täter längst über alle Berge.
Noch ein Beispiel? Quedlinburg, in der Neujahrsnacht 2006. Der 17-jährige Fabian war in einem Konzert im Café in der Reichenstraße. Gegen zwei Uhr nachts will er mit seinem Freund Zigaretten holen. Der Freund hat eine Punk-Frisur. Sie kommen an einer Gruppe von etwa 15 Leuten vorbei, in der Dunkelheit merken sie nicht, dass es Neonazis sind. „Plötzlich reißt mich einer zu Boden“, erzählt Fabian, „und dann hab’ ich nur noch die Stiefel im Gesicht gespürt.“ In Sichtweite des Geschehens steht ein Streifenwagen der Polizei. Die Beamten haben die Neonazis beobachtet, weil es schon kurz zuvor eine Schlägerei auf dem Marktplatz gegeben hatte. Fabians Freund läuft zu dem Streifenwagen, bittet um Hilfe. Die Beamten, sagt er, seien im Auto sitzen geblieben, sie hätten gesagt, sie müssten Verstärkung anfordern. Fabian wird ins Krankenhaus gebracht, er hat einen doppelten Kieferbruch. Bis heute ist gegen keinen der Täter Anklage erhoben. „Das ist das Schlimme“, sagt Fabians Mutter, „dass du das Gefühl hast, es passiert nichts. Die Polizei kann dich nicht schützen.“
Öffentlichkeit unerwünscht
Christiane Marschalk ist seit November 2005 Polizeipräsidentin in Halberstadt. Sie kennt alle diese Geschichten. Sie ist nicht glücklich darüber. „Es stimmt, dass da ein Stück Vertrauen verlorengegangen ist“, sagt sie, „deshalb achten wir da jetzt drauf.“ Siw war schon im Café in der Reichenstraße in Quedlinburg und hat sich die Probleme schildern lassen. Sie hat mit den Jugendlichen gesprochen, die vor dem Polizeirevier Oschersleben vergeblich Hilfe gesucht hatten. Gegen den Beamten, der die Tür nicht geöffnet hat, wurden Ermittlungen aufgenommen. Sie hat auch die Mutter von Fabian empfangen, des Jungen, dem in der Neujahrsnacht in Quedlinburg der Kiefer gebrochen wurde. Gegen die beiden Polizisten, die dort angeblich nicht eingegriffen haben, läuft ein Ermittlungsverfahren wegen unterlassener Hilfeleistung. Sie haben bisher keine Aussagen gemacht.
Das ist ihr gutes Recht, aber einen guten Eindruck machte es nicht, Polizeipräsidentin Marschalk weiß das wohl. Aber sie wehrt sich gegen den Vorwurf, dass ihre Beamten auf dem rechten Auge blind seien. Sie dringe darauf, sagt sie, dass Straftaten mit rechtsradikalen Hintergrund in den Pressemeldungen der Polizei auch als solche benannt werden. Aber sie weiß auch, dass eine solche Öffentlichkeitsarbeit in dieser Gegend keineswegs von allen geschätzt wird. Als, zum Beispiel, die
Berliner Zeitung ziemlich breit über die Geschichte mit Fabian berichtete, da bekam die Autorin eine Menge bitterböser Briefe aus Quedlinburg, und bei der Polizeipräsidentin in Halberstadt standen alle Bürgermeister der Region auf der Matte. Solche Berichte schaden dem Tourismus, und Quedlinburg lebt zu einem guten teil vom Tourismus. Aber Tatsache ist: In keiner anderen Region der Bundesrepublik häufen sich rechtsradikale Straftaten so wie in dem Landstrich zwischen Magdeburg, Dessau, Halle und Halberstadt.
Heike Kleffner und ihre Mitarbeiter führen seit vier Jahren eine Chronik über Straftaten mit rechtsradikalem Hintergrund in Sachsen-Anhalt. Es vergeht kaum eine Woche ohne einen oder mehrere solcher Vorfälle. 30. Juli 2005: Auf dem Herbstfest in Zerbst wird ein 16-Jähriger, der ein T-Shirt mit der Aufschrift „Gegen Nazis“ trägt, von einem mehrfach vorbestraften Rechten angegriffen. Der 29-Jährige stößt dem Jungen ein dünnwandiges Bierglas ins Gesicht und fügt ihm tiefe Schnittwunden zu. Der Jugendliche verliert sein rechtes Auge. Der Täter wird festgenommen, aber nach kurzer Befragung wieder freigelassen. Die Polizei fährt in sogar zum Bahnhof, damit er seinen letzten Zug nach Hause nicht versäumt. Jugendliche, die aus Anlass dieses Überfalls einige tage später auf dem Herbstfest gegen Neonazis demonstrieren, bekommen einen Bußgeldbescheid wegen eines Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz. Der Kulturamtsleiter der Stadt spricht in der Lokalzeitung von einem „wenig erquicklichen“ Vorgang. Er meint die Demonstration, nicht den Überfall. 12. August 2005: Unbekannte beschmieren ein Hotel in Tanne mit einem Galgen und dem Spruch: „Ich hatte einen Traum, ein Neger hängt am Baum.“ Die Parole richtet sich gegen das dunkelhäutige Adoptivkind der Hotelmanagerin. 17. August 2005: Jugendliche aus der rechten Szene greifen ein internationales Sommercamp in Gröbzig (Landkreis Köthen) an. Sie brüllen „Ausländerschweine“ und „Kanaken raus“ und bewerfen Teilnehmer mit Bierflaschen.
Für das Jahr 2005 verzeichnet die Chronik 170 Vorfälle. Im ersten Halbjahr 2006 sind es schon 110. 12. August 2006, Eisleben: Ein paar mit einem achtjährigen Kind wird von drei Rechten angegriffen. Ein 24-jähriger Neonazi schlägt dem Mann eine Bierflasche auf den Kopf. Als der Angegriffene sich zur Bahnhofsaufsicht flüchten will, schließt der Bahnhofsbedienstete die Tür ab. 11. September 2006, Quedlinburg: Eine Punkerin wird auf dem Heimweg von einem Mann mit Thor-Steinar-Tarnjacke vom Rad gestoßen, als „Scheiß-Zecke“ beschimpft und mit voller Wucht ins Gesicht getreten. Sie erleidet einen Nasenbeinbruch. 18. September 2006, Sangershausen: Unbekannte brechen den Imbisswagen einer Vietnamesin auf und besprühen ihn mit Hakenkreuzen, SS-Runen und der Parole: „Kanacke verrecke“.
Die Opfer solcher Überfälle sind oft wie gelähmt. Sie wagen sich nachts nicht mehr auf die Straße. Sie erstatten keine Anzeige aus Angst vor Racheakten, oder weil sie glauben, dass es sowieso nichts nützt. Gegen diese Resignation kämpfen Heike Kleffner und die Mitarbeiter ihres Teams. Sie begleiten Opfer zur Polizei und zur Staatsanwaltschaft, sie ermutigen sie, im gerichtsverfahren als Nebenkläger aufzutreten, sie kennen Rechtsanwälte, die sich solcher Fälle mit Tatkraft und Engagement annehmen. Das ist oft bitter notwendig. Die Mühlen der Strafjustiz in Sachsen-Anhalt mahlen, wenn es um Taten mit rechtsradikalem Hintergrund geht, langsam wie die Mühlen Gottes, aber bei weitem nicht so trefflich fein.
Eine späte Verhaftung
Der Berliner Rechtsanwalt Benjamin Raabe kann davon ein Lied singen. Er vertritt den jungen Mann, der am 5. August des Jahres 2003 in Wernigerode von einem Rechtsradikalen erheblich verletzt wurde. 15 bis 20 Neonazis hatten kurz nach Mitternacht auf dem „Platz des Friedens“ eine Gruppe acht Punks angegriffen. Sie waren mit Baseballschlägern und Ketten bewaffnet und hatten einen Kampfhund dabei. Raabes Mandant wurde zu Boden gerissen und mit Fäusten, Stiefeln und einem Holzknüppel so schwer misshandelt, dass der vom Notarzt ins Krankenhaus gebracht werden musste. Aber die Staatsanwaltschaft Halberstadt stellt das Verfahren gegen die Tatverdächtigen im November 2003 ein, ohne den Geschädigten auch nur zu benachrichtigen. Erst im Juli 2004 werden die Ermittlungen auf eine Beschwerte von Rechtsanwalt Raabe hin wieder aufgenommen, sie ziehen sich über weitere eineinhalb Jahre in. Im Januar 2006 endlich erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage gegen acht Personen. Am 6. September beginnt die Verhandlung vor dem Amtsgericht Wernigerode. Am zweiten Verhandlungstag bleib einer der Angeklagten der Verhandlung fern. Er wird nicht etwa zwangsweise vorgeführt – man will doch nicht, dass der junge Mann seinen Arbeitsplatz verliert. Da lässt man lieber den Prozess platzen. Er muss jetzt am 1. November noch einmal von vorne beginnen – drei Jahre und drei Monate nach der Tat.
Der Neonazi, der auf dem Herbstfest in Zerbst einem 16-Jährigen ein Auge ausgeschlagen hat, wird erst verhaftet, nachdem der Berliner
Tagesspiegel über den Fall berichtet hat. Dann allerdings reagiert die Justiz für hiesige Verhältnisse schnell und hart. Der Täter wird im Februar 2006 vom Landgericht Dessau zu acht Jahren Haft verurteilt. Das Opfer und seine Familie sind von Zerbst weggezogen. „Mein Sohn hat sich kaum noch auf die Straße getraut“, sagt die Mutter. Sie wohnen jetzt bei Leipzig. Und der Junge trägt wieder T-Shirts mit Anit-Nazi-Aufdruck. „Jetzt erst recht“, sagt seine Mutter.
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